Alle mussten Gervin verlassen: "Die Ausweisung"
(Quelle: "Chronik des Dorfes Gervin" von Heinz Raasch)
"Schon im Jahre 1944 traten in unserer Gemeinde die ersten Belastungen ein, in dem Familien aus Stettin und Umgebung durch Flugzeugangriffe der Engländer ausgesiedelt werden mussten. Zum großen Teil waren es Frauen und Kinder, denn die Männer waren, bis auf die Alten, zum Militärdienst eingezogen.
Diese Umsiedlung steigerte sich noch etwa seit Januar 1945. Es kamen täglich Flüchtlinge mit Pferd und Wagen aus Ostpreußen - Westpreußen - Memelgebiet und anderen Gegenden, die durch unseren Ort treckten.
Alle wollten über die Oder. Zuletzt ging es nicht mehr weiter und es ging nur von Ort zu Ort. Da der Russe und Pole vor Stettin vorgedrungen war, ging es nicht mehr weiter und so mussten alle zusätzlich verpflegt und untergebracht werden.
Es war nicht ungewöhnlich, dass 30 und mehr Personen auf einem Hof waren. Zusätzlich lag noch eine Luftwaffen-Einheit im Dorf.
Diese Einheit nahm (brachte) noch bevor die Besetzung kam einige Dorfbewohner in Sicherheit.
Am Sonntag den 04.03.1945 kamen dann von Roman her die ersten Panzer und durchkämmten das Dorf. Glücklicher und besonnener Weise haben unsere eigenen Gerviner Posten keinen Schuss oder eine Panzerfaust abgeschossen. Sonst wäre Gervin in Schutt und Asche gelegt worden. So wie es in der Treptower Gegend geschehen ist.
Unsere Treckwagen waren schon fahrbereit und so fuhr jeder für sich erstmal in Sicherheit. Meist erstmal zu Bekannten und Verwandten auf dem Ausbau. In der Zwischenzeit hatte sich eine Tragik in unserem Dorf abgespielt. Unser Bürgermeister Paul Salzsieder hatte seine Frau, 3 Kinder, seine Mutter und sich selbst erschossen. Ebenso war es bei unserem Lehrer Mielke. Seine Frau - 5 Kinder und sich selbst.
Otto Schlee war so vernünftig und ließ seine Familie am Leben.
Eine Notwendigkeit bestand nicht, was auch die Meinung aller Gerviner ist. Anders war der Fall von dem Pächter der Mühle Sohrweide Herr Treptow, er wurde von Russen oder Polen erschossen und von Frau Dora Spaude in ihrem Stall in der Schweine-Bucht tot aufgefunden.
Am gefährdesten waren unsere Frauen und jungen Mädchen, die sich Tag und Nacht vor Nachstellungen verstecken mussten. Hierüber zu berichten, wäre müßig, denn wer es nicht selbst miterlebt hat, kann sich keine Vorstellung davon machen. Es ist sehr, sehr schlimm, rechtlos zu sein. Dieses sollte der Jugend und der kommenden Generation immer wieder gesagt werden.
Im Laufe der Zeit trat dann eine geordnete Regelung ein. Bürgermeister wurde Marion, der bei Fritz Ehlert auf dem Hof als polnischer Landarbeiter war. Ihm haben die Gerviner viel zu verdanken, dass sie nicht von Ort zu Ort getrieben wurden, um in der Zwischenzeit, wo alles leer war, ausgeplündert zu werden. Wie es außer Baldekow in den umliegenden Dörfern geschah.
Jeder bestellte wieder seinen Acker , denn wir glaubten alle, dass wir nur unter polnischer Verwaltung auf unserem Hof bleiben konnten.
Bis dann im Herbst die ersten Polen kamen, um sich Bauernhöfe und Häuser auszusuchen, die sie dann auch umgehend in Besitz nahmen.
Dann kam der 30. November 1945: Morgen also der 1. Dezember müssen alle, die im Dorf wohnen, Gervin verlassen. Eine Handvoll Bauern, im Dorf ansässig, durften mit ihren Familien noch bleiben. Unter anderem auch unser Pastor Backe mit seiner Frau. Diese im Dezember Ausgewiesenen haben bei Kälte sehr viel durchgemacht und sind über Scheune bei Stettin teilweise nur in Unterhosen und einem Schuh an ihrem Zielort angekommen. Dieser 1. Transport ist in der DDR aufgeteilt worden. Ein großer Teil lebt auch jetzt noch dort.
Seit Mai 1946 sind die Transporte mehr von der Polizei oder dem Militär überwacht worden, so dass Übergriffe seltener vorkamen. Der vorletzte Transport war am 3. Juli 1947. Über Simötzel als Sammelstelle über Polen wieder in die DDR. Der letzte kleine Rest von den Gervinern wurde 1948 ausgewiesen. Jetzt leben alle verstreut in der DDR oder der Bundesrepublik Deutschland. Jeder hat sich so gut es geht in der neuen Heimat eingelebt. Aber das Dorf Gervin, die alte Heimat, ist es nicht."